Geschichtsfreiheit – Ein Standpunkt gegen die Zensur der Vergangenheit

Josie Appleton spricht mit Pierre Nora und Olivier Salvatori über die französische Initiative Liberté pour l’Histoire.

Die Leugnung von Völkermorden wurde in Europa in den 1990er Jahren durch neu eingeführte Gesetze verboten. Zunächst bezogen diese sich nur auf die Leugnung des Holocausts. Im Laufe der Jahre jedoch kamen die Leugnung von „Verbrechen des Kommunismus“ und staatlich anerkannten Völkermorden wie dem armenische Völkermord im Osmanischen Reich oder der Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932-33 hinzu. Ein EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aus dem Jahr 2008 besagt, dass „das öffentliche Billigen, Leugnen oder [die] grobe Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, [und] Kriegsverbrechen“ mit einer Haftstrafe von einem bis drei Jahren gestellt belegt werden sollte.

Kein anderes Land hat die Gesetzgebung gegen die Verleumdung von Völkermord so resolut verfolgt wie Frankreich, wo die Strafverfolgung solcher Taten bereits als Nationalsport beschrieben wurde. Den Anfang machte das Gayssot-Gesetz aus dem Jahr 1990, welches die Verleumdung des Holocausts unter schwere Geldbußen und Haftstrafen stellte. Ein Jahrzehnt später überschlugen sich die neuen Gesetze: Im Jahr 2001 wurde der armenische Völkermord gesetzlich anerkannt. Ein anderes Gesetz definierte den Sklavenhandel und die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Gesetz aus dem Jahr 2005 erkannte einen positiven Einfluss des französischen Kolonialismus an und untersagte die Kritik an den Harkis (Algerier, die sich während des Unabhängigkeitskriegs zu Frankreich bekannten), sowie die Verharmlosung von Verbrechen gegen diese Gruppe. Ziel eines weiteren Gesetzentwurfes aus dem Jahr 2006 war es, die Verleumdung des Völkermords gegen die Armenier unter Strafe zu stellen. Obwohl der Gesetzentwurf abgelehnt worden war, wurde das Thema im Jahr 2011 mit einem neuen Gesetz, das die Verleumdung oder Verharmlosung von Völkermord unter eine Geldstrafe von €45.000 sowie eine Haftstrafe von einem Jahr stellte, wieder aufgegriffen,

Nichtsdestotrotz geht gerade in Frankreich von Historikern eine hartnäckige Opposition gegen solcherlei Gesetzgebung aus. Die im Jahr 2005 gegründete Organisation Liberté pour l’Histoire hat sich auf besonders innbrünstige und für Historiker ungewöhnlich intensive Art und Weise gegen solche Gesetze ausgesprochen. Ich habe den Chef der Organisation, den Historiker Pierre Nora, sowie den Geschäftsführer Olivier Salvatori in den Büroräumen des Verlags Gallimard in Paris getroffen, wo beide arbeiten.

Liberté pour l’Histoire vertritt die Meinung, dass solcherlei Gesetze nicht mit der französischen Verfassung und den Grundprinzipien des modernen Staates zu vereinbaren sind. Eine Petition der Organisation aus dem Jahr 2008, Appel de Blois, lässt verlauten: „In einem freien Staat hat keine politische Instanz das Recht, historische Wahrheit zu definieren oder die Freiheit von Historikern durch Drohung von Sanktionen einzuschränken.“ Nora erklärt mir, dass „Gesetze zur Geschichtsschreibung grundsätzlich von Gesetzen gegen Verleumdung zu unterscheiden sind, welche die individuellen Rechte eines jeden unter verfassungsrechtlichen Schutz stellen.“ Gesetze zur Geschichtsschreibung zielen nicht darauf ab, Zivilrechte zu schützen, sondern darauf, geschichtliche Wahrheit zu bestimmen, und dies unter Androhung von Strafen.

Die Auswirkungen auf historische Nachforschungen sind enorm. „Was passiert,“ fragt Nora, „wenn einer Autor ein Buch veröffentlicht, in dem er sagt, dass 10 Million anstatt von 12 Millionen Afrikaner dem Sklavenhandel zum Opfer fielen – begeht dieser Autor damit ein Verbrechen?“ Der Staat „zieht Grenzen,“ mit denen er Historikern vorschreibt, „was sie recherchieren und aufdecken sollten.“ In Reaktion auf eine strafrechtliche Verfolgung des Historikers Olivier Pétré-Grenouilleau aufgrund von „Verleumdung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit,“ hat die Organisation eine Petition ins Leben gerufen. Der Historiker hatte in einem Interview im Jahr 2005 die Meinung vertreten, dass der Sklavenhandel keinen Völkermord darstellte, da er „nicht das Ziel hatte, Menschen auszurotten.“

Das letzte mal, dass ein europäischer Staat Geschichtsschreibung unter Sanktionen stellte, war zu Zeiten der Blasphemie- und Ketzereigesetze.

Jedoch unterscheiden sich moderne Gesetze zur Geschichtsschreibung in wichtigen Punkten von vorherigen Gesetzen. Eine auffällige Eigenschaft französischer Gesetze zur Geschichtsschreibung ist das Fehlen einer logischen und einheitlichen Argumentation: eines der Gesetze ist pro-kolonialistisch, zwei andere Gesetze enthalten Entschuldigungen (jedoch für Ereignisse, die einige Jahrhunderte zurückliegen), ein weiteres Gesetz (zum armenischen Völkermord) bezieht sich auf ein Ereignis, in dem Frankreich gar nicht involviert war und von dem viele Franzosen wohl erst gar nicht wussten.

Es ist nicht ersichtlich, warum ein französischer Präsident plötzlich einen solch zwingenden Drang verspürt, ein Gesetz zum Völkermord gegen Armenier aus dem Jahr 1915 zu erlassen, dass er dieses Gesetz durch das Parlament hetzen lässt – trotz Widerspruch vieler Berater – und es durch eine beispiellose Abstimmung durch Handmeldungen von nur fünfzig Delegierten erlassen wird.  „Wir verstehen nicht so recht,“ sagt Nora, „warum das Gesetz auf diese Weise erlassen worden ist. Es gibt dazu viele Spekulationen.“ Einige argumentieren, dass das Vorgehen geopolitische Gründe hatte und im Zusammenhang mit Eintrittsgesprächen mit der Türkei in die Europäische Union steht. Viel wichtiger ist jedoch, dass Armenier eine wichtige Wählergruppe in Schlüsselbezirken wie Marseille und Lyon darstellen. Es ist daher kein Zufall, dass das Gesetz zum armenischen Völkermord in einem wichtigen Wahljahr erlassen wurde. Zudem wurde das Gesetz im Jahr 2011 von einem Delegierten aus Marseille angenommen, der zudem Vize-Präsident der armenisch-französischen Freundschaftsgruppe war.

Eine Voraussetzung für Gesetze zur Geschichtsschreibung ist die Moralisierung der Geschichte, genauer gesagt, eine Abkehr von der Geschichtsschreibung durch die Sieger, in der Staaten ihre Vergangenheit heroisieren, und hin zu einer Geschichtsschreibung durch die Opfer, die es verschiedenen Gruppen ermöglicht ihr Leid in der Vergangenheit betonen.

Die Aufforderung zur Anerkennung historischer Leidensgeschichten ist implizit eine staatliche Aufforderung. Es ist letztlich eine Aufforderung zur Wiedergutmachung – ob finanzieller oder ideologischer Art – für die Ungerechtigkeit, der viele zum Opfer gefallen sind.

Begriffe wie „Völkermord“ oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gehören nun zum alltägliche politische Vokabular.  „Diese Begriffe waren einst sehr präzise,“ erklärt Nora. „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit’“ war nach dem Zweiten Weltkrieg ein gesetzlicher Begriff, der eine staatliche Verpflichtung zur Strafverfolgung und Verurteilung der Verursacher des Holocaust bis zu deren Tod beinhaltete. Völkermord bedeutete die Entscheidung zur Vernichtung von Teilen der Bevölkerung aus rassistischen Beweggründen.“ Heute dagegen fallen auch Ereignisse wie Bürgerkriege und der Sklavenhandel unter diesen Begriff. Noras Meinung zufolge, „ist es eine gerichtliche Absurdität, zu sagen, dass ein Ereignis wie der Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.“ Die Verursacher dieses Verbrechens sind schon vor mehreren hundert Jahren gestorben und es war nicht ihre Absicht, einen Teil der Bevölkerung auszurotten. Je mehr das Wort „Völkermord“ in einem weiteren ideologischen Sinne benutzt wird, desto mehr wird es „zu einem Begriff den Historiker zu vermeiden suchen.“

Nora erläutert dass Historiker mit solchen kulturellen Veränderungen umgehen können, solange diese nicht in Gesetze verankert werden und solange es folglich Historikern freisteht, eine solche Sichtweise der Geschichte zu kritisieren oder zu ignorieren. Gesetze zur Geschichtsschreibung sind jedoch ein Problem und sollten bekämpft werden.

Darin ist die Organisation Liberté pour l’Histoire erstaunlich erfolgreich. Obwohl mir Salvatori erklärt, dass die Gruppe nicht wirklich eine Organisation sei – da die kein Büro oder Mitarbeiter hat – so gibt sie ihre Meinungen in den Medien kund, was bis zu den obersten politischen Reihen durchdringt. „Unsere Ideen haben den Kampf der öffentlichen Meinung gewonnen,“ argumentiert Salvatori.

Durchaus hat die Gruppe erreicht, dass die französische Geschichtsrechtsprechung für nichtig erklärt wurde. Eine parlamentarische Untersuchung aus dem Jahr 2008 – zu welcher Liberté Pour l’Histoire die ersten und letzten Aussagen ablegte – kam zu dem Beschluss, dass die Regierung davon absehen sollte, Gesetze zur Geschichtsdarstellung zu erlassen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Gruppe die Suspendierung des 2011 erlassenen Gesetztes zum armenischen Völkermord durch den französischen Verfassungsrat erreichte. Eine Grundsatzentscheidung vom 28 Februar 2012 bestimmte, dass das Gesetz aufgrund der Verletzung des Rechtes auf Meinungsfreiheit verfassungswidrig war.

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint die Gefahr von Gesetzen zur Geschichtsschreibung vorüber. Die Lehre der vergangenen sieben Jahre ist, dass der Impuls geschichtliche Ereignisse gesetzlich festzulegen immer wieder aufkommt und dies oft ohne Warnung und in verschiedener Art und Weise. Kurz nach seiner Wahl im letzten Jahr hat François Hollande seine Absichten zum Ausdruck gebracht, die Gesetzgebung zum armenischen Völkermord wiederzubeleben. Daher sollte Liberté Pour l’Histoire wachsam bleiben. Der ehemalige Justizminister Robert Badinter verkündete vor der Generalversammlung der Gruppe, dass neuerliche Gesetzgebungen zur Geschichte wahrscheinlich sind. „Wir geben nicht auf,“ sagt Nora.

Das informelle Netzwerk von Historikern hat Europa ein imposantes Beispiel einer Kampagne zum Schutz der Meinungsfreiheit geliefert. Mit dem Slogan „Freiheit für die Geschichte ist Freiheit für alle,“ haben sie nicht nur die Freiheit ihres Faches, sondern auch die Grundprinzipien des demokratischen Staates verteidigt.

Josie Appleton ist Direktor der Bürgerrechtsinitiative Manifesto Club. Reden und Artikel zu Liberté pour l’Histoire findest Du auf der Website der Gruppe. Du kannst die Petition 2008 Appel de Blois unterschreiben oder dich als Mitglied anmelden.

Gesetze, welche die Verleumdung von Völkermord unter Strafe stellen, wurden in Europa in den 1990er Jahren eingeführt. Anfänglich bezogen sie sich nur auf die Verleumdung des Holocausts. Im Laufe der Jahre jedoch kamen die Verleumdung von „Verbrechen des Kommunismus“ und staatlich anerkannten Völkermorden wie dem armenische Völkermord im Osmanischen Reich oder der Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932-33 hinzu. Ein EU Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aus dem Jahr 2008 besagt, dass „das öffentliche Billigen, Leugnen oder [die] grobe Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, [und] Kriegsverbrechen“ unter eine Haftstrafe von einem bis drei Jahren gestellt werden sollte.

Kein anderes Land hat die Gesetzgebung gegen die Verleumdung von Völkermord in gleicher Weise verfolgt wie Frankreich, wo die Strafverfolgung solcher Taten bereits als Nationalsport beschrieben worden ist. Den Anfang machte das Gayssot Gesetz aus dem Jahr 1990, welches die Verleumdung des Holocausts unter schwere Geldbußen und Haftstrafen stellte. Ein Jahrzehnt später überschlugen sich die Gesetzgebungen: Im Jahr 2001 wurde der armenische Völkermord gesetzlich anerkannt. Ein anderes Gesetz definierte den Sklavenhandel und die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Gesetz aus dem Jahr 2005 zum positiven Einfluss von französischem Kolonialismus untersagt die Kritik an, sowie die Verharmlosung von, Verbrechen gegen Harkis (französische Loyalisten aus Algerien). Ziel eines weiteren Gesetzentwurfes aus dem Jahr 2006 war es, die Verleumdung des Völkermords gegen Armenier unter Strafe zu stellen. Obwohl der Gesetzentwurf abgelehnt worden war, wurde das Thema im Jahr 2011 mit einem neuen Gesetz, das die Verleumdung oder Verharmlosung von Völkermord unter eine Geldstrafe von €45.000 sowie einer Haftstrafe von einem Jahr stellte, wieder aufgegriffen,

Nichtsdestotrotz gibt es gerade aus Frankreich eine hartnäckige Opposition von Historikern gegen solcherlei Gesetzgebung. Die im Jahr 2005 gegründete Organisation Liberté pour l’Histoire hat sich auf besonders innbrünstige und für Historiker ungewöhnlich intensive Art und Weise gegen solche Gesetze ausgesprochen. Ich habe den Chef der Organisation, den Historiker Pierre Nora, sowie den Geschäftsführer Olivier Salvatori in den Büroräumen des Verlags Gallimard in Paris getroffen, wo beide arbeiten.

Liberté pour l’Histoire vertritt die Meinung, dass solcherlei Gesetze nicht mit der französischen Verfassung und den Grundprinzipien des modernen Staates zu vereinbaren sind. Eine Petition der Organisation aus dem Jahr 2008, Appel de Blois, lässt verlauten: „In einem freien Staat hat keine politische Instanz das Recht, historische Wahrheit zu definieren oder die Freiheit von Historikern durch Drohung von Sanktionen einzuschränken.“ Nora erklärt mir, dass „Gesetze zur Geschichtsschreibung grundsätzlich von Gesetzen gegen Verleumdung zu unterscheiden sind, welche die individuellen Rechte eines jeden unter verfassungsrechtlichen Schutz stellen.“ Gesetze zur Geschichtsschreibung zielen nicht darauf ab, Zivilrechte zu schützen, sondern darauf, geschichtliche Wahrheit zu bestimmen, und dies unter Androhung von Strafen.

Die Auswirkungen auf historische Nachforschungen sind enorm. „Was passiert,“ fragt Nora, „wenn einer Autor ein Buch veröffentlicht, in dem er sagt, dass 10 Million anstatt von 12 Millionen Afrikaner dem Sklavenhandel zum Opfer fielen – begeht dieser Autor damit ein Verbrechen?“  Der Staat „zieht Grenzen,“ mit denen er Historikern vorschreibt, „was sie recherchieren und aufdecken sollten.“ In Reaktion auf eine strafrechtliche Verfolgung des Historikers Olivier Pétré-Grenouilleau aufgrund von „Verleumdung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit,“ hat die Organisation eine Petition ins Leben gerufen. Der Historiker hatte in einem Interview im Jahr 2005 die Meinung vertreten, dass der Sklavenhandel keinen Völkermord darstellte, da er „nicht das Ziel hatte, Menschen auszurotten.“

Das letzte mal, dass ein europäischer Staat Geschichtsschreibung unter Sanktionen stellte, geht zu Zeiten der Blasphemie- und Ketzereigesetze zurück.

Jedoch unterscheiden sich moderne Gesetze zur Geschichtsschreibung in wichtigen Punkten von vorherigen Gesetzen. Eine auffällige Eigenschaft französischer Gesetze zur Geschichtsschreibung ist das Fehlen einer logischen und einheitlichen Argumentation: eines der Gesetze ist pro-kolonialistisch, zwei andere Gesetze sind entschuldigend (jedoch für Ereignisse, die einige Jahrhunderte zurückliegen), ein weiteres Gesetz (zum armenischen Völkermord) bezieht sich auf ein Ereignis, in dem Frankreich gar nicht involviert war und von dem viele Franzosen wohl erst gar nicht wussten.

Es ist nicht ersichtlich, warum ein französischer Präsident plötzlich einen solch zwingenden Drang verspürt, ein Gesetz zum Völkermord gegen Armenier aus dem Jahr 1915 zu erlassen, sodass dieses Gesetz durch das Parlament gehetzt wird – trotz Widerspruch vieler Berater – und durch eine beispiellose Abstimmung durch Handmeldungen von nur fünfzig Delegierten erlassen wird.  „Wir verstehen nicht so recht,“ sagt Nora, „warum das Gesetz auf diese Weise erlassen worden ist. Es gibt dazu viele Spekulationen.“ Einige argumentieren, dass das Vorgehen geopolitische Gründe hatte und im Zusammenhang mit Eintrittsgesprächen mit der Türkei in die Europäische Union, steht. Ein schwerwiegender Faktor bezieht sich auf die Wählerschaft: Armenier sind eine wichtige Wählergruppe in Schlüsselbezirken wie Marseille und Lyon. Es ist daher kein Zufall, dass das Gesetz zum armenischen Völkermord in einem wichtigen Wahljahr erlassen wurde. Das Gesetz aus dem Jahr 2011 wurde von dem Delegierten von Marseille angenommen, der zudem Vize-Präsident der armenisch-französischen Freundschaftsgruppe war.

Eine Voraussetzung für Gesetze zur Geschichtsschreibung ist eine Moralisierung der Geschichte, genauer gesagt, eine Verschiebung von einer Geschichte von Siegern, in welcher Staaten vergangene Heldentaten hervorheben, zu einer Geschichte von Opfern, in welcher verschiedene Gruppen ihre Leiden der Vergangenheit betonen.

Die Aufforderung zur Anerkennung historischer Leidensgeschichten ist implizit eine staatliche Aufforderung. Es ist letztlich eine Aufforderung zur Wiedergutmachung – ob finanzieller oder ideologischer Art – für die Ungerechtigkeit, der viele zum Opfer gefallen sind.

Begriffe wie „Völkermord“ oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gehören nun zum alltägliche politische Vokabular.  „Diese Begriffe waren einst sehr präzise,“ erklärt Nora. „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit’“ war nach dem zweiten Weltkrieg ein gesetzlicher Begriff, der eine staatliche Verpflichtung zur Strafverfolgung und Verurteilung von der Verursachern des Holocaust bis zu deren Tod beinhaltete. Völkermord bedeutete die Entscheidung zur Vernichtung von Teilen der Bevölkerung aus rassistischen Beweggründen.“ Heute dagegen fallen auch Ereignisse wie Bürgerkriege und Sklavenhandel unter diesen Begriff. Noras Meinung zufolge, „ist es eine gerichtliche Absurdität, zu sagen, dass ein Ereignis wie der Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.“ Die Verursacher dieses Verbrechens sind schon vor mehreren hundert Jahren gestorben und es war nicht ihre Absicht, einen Teil der Bevölkerung auszurotten. Je mehr das Wort „Völkermord“ in einem weiteren ideologischen Sinne benutzt wird, desto mehr wird es „zu einem Begriff den Historiker zu vermeiden suchen.“

Nora erläutert dass Historiker mit solchen kulturellen Veränderungen umgehen können, solange diese nicht in Gesetze verankert werden und folglich solange es Historikern freisteht, eine solche Sichtweise auf die Geschichte zu kritisieren oder zu ignorieren. Das Problem sind hier Gesetze zur Geschichtsschreibung. Diese sollten bekämpft werden.

Darin ist die Organisation Liberté pour l’Histoire erstaunlich erfolgreich. Obwohl mir Though Salvatori erklärt, dass die Gruppe nicht wirklich eine Organisation ist – das die kein Büro oder Mitarbeiter hat – stattdessen geben sie ihre Meinungen durch die Medien kund, was bis zu den obersten politischen Reihen durchdringt. „Unsere Ideen haben den Kampf der öffentlichen Meinung gewonnen,“ argumentiert Salvatori.

Durchaus hat die Gruppe erreicht, dass die französische Geschichtsrechtsprechung für nichtig erklärt wurde. Eine parlamentarische Untersuchung aus dem Jahr 2008 – zu welcher Liberté Pour l’Histoire die ersten und letzten Aussagen ablegte – kam zu dem Entschluss, dass die Regierung davon absehen sollte, Gesetze zur Geschichtsdarstellung zu erlassen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Gruppe die Suspendierung des 2011 erlassenen Gesetztes zum armenischen Völkermord durch den französischen Verfassungsrat erreichte. Eine Grundsatzentscheidung vom 28. Februar 2012 bestimmte, dass das Gesetz aufgrund der Verletzung des Rechtes auf Meinungsfreiheit verfassungswidrig war.

Zum jetzigen Zeitpunkt scheint die Gefahr von Gesetzen zur Geschichtsschreibung vorüber. Die Lehre der vergangenen sieben Jahre ist, dass der Impuls geschichtliche Ereignisse gesetzlich festzulegen immer wieder aufkommt und dies oft ohne Warnung und in verschiedener Art und Weise. Kurz nach seiner Wahl im letzten Jahr brachte François Hollande seine Absichten zum Ausdruck, die Gesetzgebung zum armenischen Völkermord wiederbeleben zu wollen. Daher sollte Liberté Pour l’Histoire wachsam bleiben. Der ehemalige Justizminister Robert Badinter verkündete vor der Generalversammlung der Gruppe, dass neuerliche Gesetzgebung zur Geschichte wahrscheinlich sind. „Wir geben nicht auf,“ sagt Nora.

Das informelle Netzwerk von Historikern hat Europa ein imposantes Beispiel einer Kampagne zum Schutz der Meinungsfreiheit geliefert. Mit dem Slogan „Freiheit für die Geschichte ist Freiheit für alle,“ haben sie nicht nur die Freiheit ihres Faches, sondern auch die Grundprinzipien des demokratischen Staates verteidigt.

Josie Appleton ist Direktor der Bürgerrechtsinitiative Manifesto Club. Reden und Artikel zu Liberté pour l’Histoire findet Ihr auf der Website der Gruppe. Ihr könnt die Petition 2008 Appel de Blois unterschreiben oder Euch als Mitglieder anmelden.

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Kommentare (2)

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  1. It is, of course, deeply ironic that governments, in order to appear to be anti-fascist, resort to exactly the sort of anti-free-speech methods that might have been recommended by Goebbels himself.

  2. THE DIFFERENCE BETWEEN GENOCIDE AND CRIME AGAINST HUMANITY

    I admire the work of Liberté pour l’Histoire and fully support its analysis and goals. According to Josie Appleton, however, Pierre Nora and Olivier Salvatori said the following:

    Terms such as ‘genocide’ and ‘crimes against humanity’ are now part of the everyday business of political claims-making. ‘These terms were once very precise’, says Nora. ‘A crime against humanity was a legal term applied after the Second World War, which involved the legal duty to pursue and bring to justice the authors of the Holocaust until their deaths. Genocide meant the decision to destroy a part of a population for racist reasons’. Now events including civil wars and the slave trade can be described in these terms. In Nora’s view, ‘it is a judicial absurdity to say that an event such as the slave trade was a crime against humanity’. The authors of that crime are several centuries long gone, and their intention was not to destroy a population. The more that the word ‘genocide’ is used broadly for ideological reasons, the more it becomes ‘a word that historians try to avoid’.

    In contrast to the remainder of the interview, this passage is full of confusion. A few clarifications, sentence by sentence.

    ** “These terms were once very precise.”
    This is correct, but the terms are now more precise than in the past. For the first definitions of “crimes against humanity” and “war crimes,” see articles 6b and 6c of the Charter of the International Military Tribunal (IMT) at Nuremberg (1945); for the first definition of “genocide,” see article 2 of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (1948). For presently internationally accepted definitions, see International Criminal Court (ICC), Statute (1998), article 6 for genocide (which definition is identical to article 2 of the Genocide Convention), article 7 for crimes against humanity (which definition is a complete redrafting of IMT text), and article 8 for war crimes (which definition is based on 1949 Geneva Conventions and 1977 Additional Protocols). In general, the passage confuses genocide and crime against humanity: every genocide is a crime against humanity, but not every crime against humanity is a genocide.

    ** “A crime against humanity was a legal term applied after the Second World War, which involved the legal duty to pursue and bring to justice the authors of the Holocaust until their deaths.”
    This is correct: the perpetrators of the Holocaust were tried for crimes against humanity and war crimes under the IMT Charter. But the Charter definition of crime against humanity is not “the legal duty to pursue and bring to justice the authors of the Holocaust until their deaths”; it is “murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated.” At Nuremberg, the perpetrators of the Holocaust were not tried for genocide because the IMT Charter did not yet contain the genocide category. The United Nations General Assembly first affirmed that genocide was a crime under international law in Resolution 96 (I) (“The Crime of Genocide”) (11 December 1946). Genocide was a crime that only came into legal existence with the adoption of the Genocide Convention in 1948 and the latter’s entry into force in 1951. The Holocaust of 1939-1945 has officially been called a genocide since the adoption of the Genocide Convention. Nobody can protest in earnest against this case of retroactive labeling because the Genocide Convention was drafted precisely with the Nazi atrocities in the minds of the drafters. And many other crimes in history conform to the official genocide convention.

    ** “Genocide meant the decision to destroy a part of a population for racist reasons.”
    This is not accurate: the genocide definition speaks of an intent to destroy in whole or in part; and the groups mentioned in the genocide definition do not only include racial groups, but also ethnic, national and religious groups.

    ** “Now events including civil wars and the slave trade can be described in these terms.”
    (1) A civil war cannot be described as a genocide, a crime against humanity or a war crime. A civil war is the context in which such crimes may occur. In its 1977 Additional Protocols, the International Committee of the Red Cross was the first to distinguish the context of international war from the context of a “war not of an international character”. Such a distinction was urgently needed because by only covering gross crimes committed in international wars, a huge percentage of all gross crimes stayed in the dark. The distinction international / internal is also adopted by the ICC, but only for its definition of war crimes.
    (2) For the slave trade, see my next point.

    ** “It is a judicial absurdity to say that an event such as the slave trade was a crime against humanity”.
    This is not accurate: the slave trade is a crime against humanity but it is not a genocide. The ICC Statute determines that enslavement (a summary name for slavery and slave trade) was a subcategory of “crimes against humanity.” The Declaration of the 2001 World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance reiterated this view. Some define slavery inaccurately as a genocide or a “Black Holocaust,” but the slave traders’ intent was not to destroy the slaves but to exploit them as cheap labor. This was the view correctly held by Olivier Pétré-Grenouilleau (and correctly rendered earlier in this interview, but not in the passage I discuss here).

    ** “The more that the word ‘genocide’ is used broadly for ideological reasons, the more it becomes ‘a word that historians try to avoid’.
    It is correct that the word “genocide” is often abused (as in the example of the Black Holocaust above). Avoidance by historians of the term for that reason, however, is a weak offer. Some crimes are genocides, others are not. The use of recent concepts is not necessarily anachronistic and often plainly better than the use of concepts en vogue at the material time of the crime. (Space lacks to develop this important point here). We already saw above that retroactive labeling can be fully justified. In fact, historians do little else than retroactively labeling of historical events. To be sure, scholars and others retain the right not to adopt labels defined under international law for historical practices. They should, however, explain why their alternative label or definition is superior. I find such explanations, if they are given at all, seldom convincing. In cases of recent historical injustice, it is not recommended to define the nature of a given crime differently from international courts with their elevated standards of evidence and huge research departments. In cases of remote historical injustice, the use of either historical or recent concepts has to be painstakingly justified.

    I elaborated these points at length in my “Historical Imprescriptibility,” Storia della Storiografia (September 2011) and “Conceptualising Historical Crimes,” Historein, no. 11 (2012).

    Antoon De Baets

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