Wir müssen in der Lage sein, alle Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu hinterfragen. Hier nennen wir mit Absicht vier Beispiele dafür, wie solche Einschränkungen begründet werden: die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit, die öffentliche Ordnung, geistiges Eigentum und die Moral. Demokratische wie auch undemokratische Regierungen rechtfertigen viele Einschränkungen der Meinungsfreiheit mit diesen Begründungen. Auch Artikel 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte besagt, dass diese diese Begründungen (wie auch die “öffentliche Gesundheit”, die kaum herangezogen wird, und die “Rechte und der Ruf anderer”, siehe auch Prinzip 7) legitime Einschränkungen der Meinungsfreiheit erlauben – solange dies durch Gesetze geregelt wird und “notwendig” ist. Doch wer soll entscheiden können, was “notwendig” ist?
Selbst Regierungen, die den Pakt unterzeichnet und ratifiziert haben (siehe unsere Karte), benutzen oft eine dieser Einschränkungen als dehnbare und diffuse Rechtfertigung für Einschränkungen der Meinungsfreiheit. In totalitären, autoritären und sogenannten hybriden Regimen (d.h. Regimen mit sowohl demokratischen als auch autoritären Elementen) geschieht dies sehr häufig und unverhohlen. Der übermäßige Gebrauch dieser Einschränkungen gegen legitime Kritik an der Politik einer Regierung kann sogar ein klares Merkmal autoritärer Regierungen sein, vor allem wenn es keine effektiven rechtlichen Mittel gibt, um sich gegen diese Vorgehensweise zur Wehr zu setzen. Nach dem Sturz Hosni Mubaraks in Ägypten landeten dort Blogger im Gefängnis, nur weil sie das Militär kritisiert hatten.
Aufruhr, Geheimhaltung, Terror
Auch in demokratischen Ländern gibt es viele relevante Beispiele. Das Strafgesetzbuch Indiens, der größten Demokratie der Welt, geht gegen Widerspruch mit Hilfe des weitreichenden Anti-Aufruhr-Artikels 124A vor, der noch aus der britischen Kolonialzeit stammt. (Damals wurde dieser von Gandhi als “der Prinz unter den politisch motivierten Artikeln des Strafgesetzbuches, die die Freiheiten jedes Bürgers einschränken”bezeichnet.) Diese Methode wurde bereits gegen Schriftsteller und Aktivisten wie Arundhati Roy eingesetzt, die hier darüber spricht. Im Jahr 2011 wurde in Südafrika ein offizielles Geheimhaltungsgesetz verabschiedet, das drakonische Strafen von bis zu 25 Jahren Haft für die Preisgabe geheimer Informationen vorsieht (hier unser Fallbeispiel).
Viele prominente westliche Demokratien reagierten auf die Terrorangriffe des 11. September 2001, und die Bombenattentate von Madrid und London, mit Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Namen der nationalen und öffentlichen Sicherheit. In den USA geschah dies im Rahmen der Idee – oder Metapher – des “Kriegs gegen den Terror”. “Kriege” und “nationale Notfälle” haben schon immer und überall Maßnahmen gerechtfertigt, die zu Friedenszeiten nicht akzeptabel gewesen wären. Doch wer entscheidet, wann Krieg herrscht, und wann ein Notfall vorliegt? In Swaziland herrscht mittlerweile seit mehr als 38 Jahren der “Ausnahmezustand”. In Ägypten war dies von 1981 bis 2011 der Fall, und wurde auch im Februar 2012 von den regierenden Militärs nur zum Teil aufgehoben.
In seinem Buch Gefährliche Zeiten: Die Meinungsfreiheit im Kriegszustand, argumentiert der US-amerikanische Akademiker Geoffrey Stone, dass man sich unter dem Schutz des Ersten Zusatzartikel zur US-Verfassung sogar unter der Regierung von George W. Bush gegen den Krieg aussprechen durfte. Gleichzeitig erlaubten der sogenannte US Patriot Act und andere neu erlassene Gesetze die Langzeitinhaftierung von Terrorverdächtigen ohne Gerichtsverhandlung und die umfassende Aufzeichnung elektronischer Daten.
In Großbritannien wurde Samina Malik, eine 23-jährige Verkäuferin in einem Geschäft am Londoner Flughafen Heathrow wegen neuer Antiterror-Gesetze verurteilt, weil sie blutrünstige Gedichte geschrieben, sich als lyrische Terroristin bezeichnet und jihadistisches Hetzmaterial im Internet heruntergeladen hatte. (Das Urteil wurde in einem Berufungsverfahren annulliert.) Das Terrorismusgesetz aus dem Jahr 2006 sah sogar vor, dass die Verherrlichung von Terrorismus kriminalisiert werden sollte. Kritiker entgegneten, dass der Dichter W B Yeats – wenn er am Leben wäre – nach dem Gesetz verurteilt werden könnte, weil er in einem Gedicht die Anführer des irischen Osteraufstandes im Jahr 1916 gegen die britische Regierung verherrlicht hatte. Die Anführer des Aufstandes galten in den Augen der Regierung als Terroristen. (“MacDonagh and MacBride / And Connolly and Pearse / Now and in time to be, / Wherever green is worn, / Are changed, changed utterly: / A terrible beauty is born.”)
Öffentliche Ordnung und Moral
Auch die “öffentliche Ordnung” diente schon oft als Vorwand, um die Meinungsfreiheit einzuschränken. Wir sprechen auf dieser Seite immer wieder an, dass in Großbritannien Teile des Gesetzes zur öffentlichen Ordnung benutzt werden, um die freie Meinungsäußerung einzuschränken, wenn sie eigentlich nicht beschränkt sein sollte. Das 1986 erlassene Gesetz kriminalisiert bedrohliche und beleidigende Verhaltensweisen und Aussagen, sowie auch unmäßiges Verhalten in der Gegenwart von Personen, denen dies wahrscheinlich seelischen Schaden zufügt. Dabei ist “wahrscheinlich” ein Schlüsselwort: Absicht muss nicht vorliegen. Selbst wenn es selten zu Gerichtsverhandlungen kommt, so bezieht sich die Polizei oft auf diese vage formulierten Paragraphen, um Menschen zu verhaften oder mit Verhaftung zu drohen. Dabei sprechen wie hier nur von Großbritannien. In anderen Ländern kann “die öffentliche Ordnung” alles mögliche bedeuten, je nach Wunsche der Mächtigen.
Die Moral, manchmal auch die öffentlichen Sitten genannt, ist ein noch vageres Konzept. Was als unangemessene Schimpfwörter, Kleidung oder Sexualverhalten gilt, hängt stark von Zeit und Ort ab. Selbst innerhalb eines Landes kann es große Unterschiede geben. Im Fall der Pornographie hat der oberste Gerichtshof der USA immer wieder betont, dass es darum geht, was der Durchschnittsbürger aufgrund “gegenwärtiger Standards in der Gemeinschaft” obszön findet. Das Gericht sagt jedoch weiterhin, dass es verschiedene Arten von Gemeinschaften gebe. Was im Castro-Bezirk von San Francisco als zahm erscheint, kann in einer tiefreligiösen Kleinstadt in Iowa als unmöglich gelten. Daher entschied das Gericht, dass jeder Bundesstaat hier selbst entscheiden sollte. Das Internet jedoch macht dies unmöglich. Wer sollte also entscheiden, und auf welcher Grundlage?
Was kann man tun?
Der ansonsten vortreffliche Allgemeine Kommentar des UN Menschenrechtsausschussesschafft es nicht, Klarheit in diese Debatte zu bekommen. Am besten gelingt dies noch im Bereich der nationalen Sicherheit. Hier wird davor gewarnt, mit Hilfe von Gesetzen “Informationen zu unterdrücken oder zurückzuhalten, die das öffentliche Interesse, nicht aber die nationale Sicherheit, berühren, oder Journalisten, Wissenschaftler, Umweltschützer, Menschenrechtsaktivisten oder andere Personen wegen der Verbreitung solcher Informationen zu verfolgen”. Zur öffentlichen Ordnung heißt es nur, dass es “unter bestimmten Umständen erlaubt sein [kann], die freie Meinungsäußerung in bestimmten öffentlichen Räumen einzuschränken”. Wenn es um die Frage der Moral geht, so wird gar nicht erst versucht, klare Regeln zu finden. Stattdessen findet sich hier nur ein Verweis auf einen anderen Allgemeinen Kommentar (Nummer 22), in dem es heißt, dass “Moralvorstellungen auf vielen gesellschaftlichen, philosophischen und religiösen Traditionen beruhen. Daher können sich Begrenzungen der Meinungsfreiheit aus moralischen Gründen nicht exklusiv aus einer einzigen moralischen Tradition ableiten”.
Wie kann man solche generellen Prinzipien genauer ausarbeiten? Ein Ansatz ist die Arbeit einer Expertengruppe von Article 19, die sog. 1995 Johannesburg Principles on National Security, Freedom of Expression and Access to Information. Die Justice Initiative der Open Society Foundation versucht, dieses Dokument weiter zu aktualisieren und zu verbessern, vor allem was das öffentliche Recht auf Informationen angeht. Sandra Coliver schreibt hier, dass dieses Recht Teil der 10 Prinzipien werden sollte.Hier ist die neueste Version zu lesen. Es ist unwahrscheinlich, dass man je solch ausgefeilte Regeln für Begrenzungen der Meinungsfreiheit zum Schutz von öffentlicher Ordnung oder gar Moral finden könnte.
Eben weil es so schwierig ist, in diesen und anderen Fragen klare, universelle und für alle Kulturen akzeptable Regeln zu finden, ist das Meta-Prinzip zum Hinterfragen aller Regeln so wichtig. Wenn jemand wissentlich Gesetze bricht, um in einem Land die Meinungsfreiheit zu stärken, so muss er oder sie mit einem Zivilverfahren oder einer Geldstrafe rechnen. Doch niemand sollte jemals irgendwo verfolgt oder angeklagt werden, weil er oder sie ein Gesetz, die Anwendung eines Gesetzes oder eine sonstige Einschränkung der Meinungsfreiheit hinterfragt hat.
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The link abowe, in the text „here“ („There’s a useful discussion of what the public interest does mean here“), it doesn’t run.
Thanks!
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Once again we are given the opportunity to read a wonderful, enlightening, thought provoking and educating article; and all the subsequent comments. This subject has been of some interest to me for some time. Please forgive me if my comments seem more than a little incredulous, and perhaps somewhat crazy. I do agree with all that is conveyed within the article. This seems to be an immensely complex subject and I am far form being anything of a writer; with no education, as you have probably gathered by now. We live in changing times, technology is advancing and making it easier to collect information of all types and also to distribute information. All this information technology has multiple uses and can be mixed with other ingredients of generic day to day life to make many byproducts. If we use Facebook we willingly give some personal details out towards strangers and whoever. We also enter a world in which we are well liked and very popular because it is the nature of Facebook to bring us smiling loyal friends and remove any who grumble or disagree with our comments. This does not require any direct action by Facebook staff or anyone else; it’s a natural process. It appears to me there are many aspects of if issue that are completely, or almost unknown to the public; but known to the rare breed of specialists. The poorly educated are helped greatly by modern information technology; but the whole mass of the general public are open to manipulation on a massive scale. If we move form one web site to another and do the same with news outlets we can find on the popular „high hit rate“ sites radicalization on a large scale, people with angry opinion but no, or very little knowledge of what their anger is about. I am not very good explaining these things; but I really do believe we must beware. Terrorism and pedophiles are subjects that are genuinely profoundly disturbing; but are we being whipped into hysteria to make us proud to give up our privacy to those with surreptitious agendas. Our TV pumps out lots of propaganda which adds to the mix and sometimes encourages the giving up of more privacy. We also have a problem that all those ‚little guys‘ who don’t have any real fire power and capacity to do violence; will be dealt with severely; others , state actors, private contractors and so forth are OK and will get away with anything. Much of the data collecting paraphernalia is owned and used by multiple organisations, business, civil public sector, military, intelligence gathering and so on, one way or another. We sometimes read sensational stories that make „conspiracy theories“ of secret Intelligence gathering; when it’s just some day to day mundane operation. The really important issue here is should we be happy for more of our personal information to be stored, and more of our privacy given up. In my limited, but considered opinion definitely not, we cannot trust those in power, if we consider terrorism there are scandals of torture, lies and massive fraud. Look deeper and we find much more of the same going back many years.
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First of all, congratulations for the project. It’s quite interesting.
I agree with most of the comments above. The definition of public interest online is a very shady business, in particular because the perpetual memory of the internet can, in my view, constrain the usual definitions of the concept, mostly because anything can become of public interest at any time. You can go back years and years on end and find anything related to someone who’s suddently under the spotlight and anything that is unrelated, but still damaging comes up again, even if not in the public’s interest.
There’s a two-fold approach to this, in my view: there’s a need for an education for privacy, in which people are taught how to behave online (and I’m not just referring to social media). We focus a lot on companies privacy policies, but we seldom talk about how the people use the internet, something which, I am sorry to say, the majority seems to know very little about. Then there’s also a need for a regulated approach to privacy, which applies to companies, but also individuals, by which one can enforce not a right to be forgotten, which is technically unfeasible so far, but a right not to be found (see for instance the recent EU Court of Justice referral regarding Google). As Prof. Schoenberg wrote in his book („Delete“), online abstinence is not a good approach anymore, but neither is online binging, especially involving personal data.
Finally, I strongly feel that, as difficult as it may be, a limit should be set as to how the internet – and internet-linked technologies – should enter our daily lives. This of course involves a serious reflexion on big data, profiling, data retention and so on and so forth.
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Privacy sounds like a nice thing. If I could have a right to privacy without this interfering with free speech, then I’d be tempted. But what are we supposed to do? If I do tell someone an intimate secret, can I really be given a right to force them never to reveal this information? That sounds an awful lot like limiting free speech.
Attempts to enforce a right to privacy can easily interfere with free speech – and free speech is more important than privacy. It shouldn’t be a question of trying to ‚balance‘ a ‚right to privacy‘ against ‚the public interest.‘ It is not in the public interest to compromise on free speech without an extraordinarily good reason – and preventing people being embarrassed is not an extraordinarily good reason for limiting free speech. Are we really going to argue – without any trace of irony – that, in order to protect free speech, we have to force people to keep quiet about things that might embarrass other people? Very often, this embarrassment results from people being two-faced and deceitful. They want to present one image of themselves to certain people whilst the truth lies elsewhere. Should we compromise free speech in order to protect liars from being discovered?
I am also concerned to challenge the central argument that privacy is a condition of free speech – as expressed in the top paragraph. Providing we don’t have a police state – which obviously wouldn’t have free speech anyway – the argument about a lack of privacy preventing free speech doesn’t hold water. It is true that, even without a police state, most people will still limit what they say if they think their words will not remain private. That, however, is their choice. They are not being forced to keep quiet. Their right to free speech has not been taken away. They are choosing not to share their views – usually because it doesn’t suit them for certain other people to know the truth about what they think.
There are legitimate ways in which we can seek to protect our rights to privacy. Mainly, however, these should focus on restricting some of the more intrusive methods that people might use to gain information about us rather than on restricting how they can disseminate information they have obtained legitimately. Limiting free speech in order to protect people’s privacy, however, is another matter.
We shouldn’t be compromising our free speech principles. When people have concerns about such things as privacy, instead of pandering to any demands they might have that free speech should be limited, we should stand by our principles and argue our case that, however much we might enjoy our privacy, free speech is far, far more important.
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The problem is not so much that you can’t force someone to reveal your intimate secret, is the fact that it can be revealed potentially to four billion people and that it will stay there forever. You can change jobs, city, country and it will stay there. And this can have horrible consequences. That’s the main issue. The public space changes when it becomes a virtual (online) public space.
The same goes for the concept of free speech. If you apply self-censorship (which in some cases could just be called „common sense“), then you’re restraining your freedom of speech, because you know that the perpetual and open nature of the internet can have consequences in the future. I’m all for making people responsible for their comments, but I also know that people don’t really understand how the internet works and that often they may make comments for a specific group in a specific situation which can then spilled by others and can become potentially harmful. I’m talking about hate speech as much as political, religious or any other views. I don’t agree with the balance metaphor either, but I do think that these two fundamental rights are equally important.
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I couldn’t agree more with the opinion concerning the importance of freedom of speech, but freedom of speech doesn’t mean public interest, at least not anytime. The right of private life, the public interest and freedom of speech are three legal concepts which are interconnected but different, and obviously, should not exclude each other. Moreover any right involves a correlative duty. Freedom of speech is not incompatible with the right to privacy as long as it is used without breaching the other’s rights, as they are ruled by the relevant statutes.
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This principle is always going to be a difficult one to juggle. I agree that ‚public interest‘ is very vague and could be used to justify either immense amounts of press intrusion or very little depending on where the bar is placed. But as a free speech principle enshrining the right to privacy without some way around it in the statement would seem to be doing the opposite of what much of the project is promoting. A principle of privacy would present a block on freedom of speech rather than an attempt to break down such barriers as most of the other principles do. Indeed I am slightly surprised that the principle was not more radical the other way towards there not being much right to privacy. Principle 8 seems to turn what might otherwise have been quite a radical manifesto for free speech into a much more status quo idea.
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The second part of the principle 8 is too vague to be accepted as such, without a precise definition of ‚public interest‘. This is the reason why I would maintain only the first part of the principle, namely: ‚we are entitled to our private life‘, as one of the fundamental human rights enshrined by the European Convention of Human Rights and the ECHR’s judgments delivered according to this.
Any infringement of this right should be justified only either on the legal grounds concerning criminal investigations (including those relating to terrorism and more), and/or the public interest relating to public servants‘ activities (public activities and private activities which could make these individuals vulnerably as regards their public status).
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People shouldn’t be entitled to a private life if it means that they can use their privacy to cause harm to other people. What if someone used their privacy to build a terrorist following?
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The public interest is far too fickle to consider encroachment onto privacy tolerable. Allowing it to be cherry-picked allows far too much room for abuse.
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I don’t necessarily agree with this statement as we don’t currently have an accurate way of measuring what’s in the public interest. As a result people believe they are interested in the topics which are in the media, but these might not have been the interests they would have formed left to their own devices.