Vom Tabu zum Delikt – Meinungsfreiheit und das israelische „Boykottgesetz“

Maja Sojref erörtert, wie ein Gesetz, dass den israelischen Staat vor Schaden bewahren soll, Spannungen zwischen Meinungsfreiheit und nationaler Sicherheit offenlegt.

Am 15 April 2015 bestätigte Israels Oberster Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes zur Prävention von Schaden für den Staat Israel durch Boykottmaßnahmen“ und gewährte so den nationalen Sicherheitsinteressen Vorrang vor der Meinungsfreiheit im Land. Gemäß dieses Gesetzes aus dem Jahr 2011 ist der Aufruf zum Boykott von Einzelpersonen oder Institutionen, die mit dem Staat Israel oder den israelischen Siedlungen im Westjordanland assoziiert sind, ein zivilrechtliches Delikt aufgrund dessen Angeklagte auf Schadensersatz verklagt werden können. Der Gerichtshof schaffte zwar eine Bestimmung ab, wonach Kläger sogar ohne den Nachweis über einen tatsächlichen Schaden Recht auf Schadensersatz hätten, bestätigte jedoch alle anderen Klauseln des umstrittenen Gesetzes.

Auch Artikel 4, der es dem Finanzminister erlaubt, NGOs, die den Boykott gegen Israel unterstützen, steuerliche Vorteile zu streichen und ihnen somit den Status als gemeinnützige Institutionen abzuerkennen, blieb erhalten. Daraufhin kritisierten israelische und palästinensische Bürgerrechtsorganisationen, wie z.B. Adalah, Gush Shalom oder die „Coaltion of Women for Peace“ das „Boykottgesetz“. Es diene als Hintertür zur Verfolgung linker Organisationen in der israelischen Gesellschaft. 2011 klagten sie bei dem Obersten Gerichtshof des Landes gegen das Gesetz, mit dem Argument, es ersticke legitime politische Debatten und gefährde demokratische Prinzipien der Meinungsfreiheit.

Richter Hanan Meltzer, der bei der Gerichtsentscheidung gegen die Klage die Mehrheitsmeinung vertrat, setzte sich dagegen über diese Kritiken hinweg: Bei dem Verbot des Boykotts handele es sich um eine angemessene Einschränkung der Meinungsfreiheit im Interesse des Staates Israel und seiner Bürger. Laut Meltzer stelle der Aufruf zum Boykott keinen legitimen Beitrag zum demokratischen Meinungsaustausch dar sondern einen Angriff auf die wirtschaftliche und politische Freiheit anderer, ausgehend von ihrer Verbindung mit dem israelischen Staat. Meltzer erklärte weiter, das Verbot eines solchen Boykotts durch den Staat schütze somit die Bürger vor „kollektiver Bestrafung“. Außerdem diene das Gesetz als legitimes Mittel zum Schutz des Staates vor der ununterbrochenen Bedrohung seiner Existenz durch wirtschaftlichen Boykott. Meltzer verwies auf wirtschaftlichen Boykott Israels durch die Arabische Liga und suggerierte somit indirekt, bei der Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) handele es sich lediglich um das neueste Beispiel einer systematischen Kampagne mit dem Ziel, Israel zu isolieren und dem Staat sein Existenzrecht zu verweigern.

Die 2005 von Vertretern der palästinensischen Zivilgesellschaft gegründete Bewegung BDS ist mittlerweile zum wichtigsten Sprachrohr für die Kampagne für den wirtschaftlichen, kulturellen und akademischen Boykott Israels geworden. Anhänger der Bewegung argumentieren, dass nur ein vollständiger Boykott die israelische Regierung dazu bewegen werde, der Besatzung der palästinensischen Gebiete ein Ende zu setzen und die von Israel errichtete Trennungsmauer abzubauen. Des Weiteren soll der Boykott die Regierung zwingen, die vollen Rechte der palästinensischen Bürger Israels sowie das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge anzuerkennen. Meltzers Argument, der Boykott bedrohe das Existenzrecht Israels ist daher vor allem vor dem Hintergrund letzterer Forderung zu verstehen. Denn die Rückkehr der seit 1948 vertreibenen Palästinenser würde aus der jüdischen Bevölkerung im Land eine Minderheit machen und somit das Grundprinzip Israels als jüdischen Staat infrage stellen.

Meltzers Argumentation verschleiert jedoch wichtige Nuancen in der Debatte: Nicht alle Befürworter eines Boykotts unterstützen BDS in der Gesamtheit ihrer Forderungen. Auch traf das Gericht in einer Abstimmung von 5 zu 4 keine Unterscheidung zwischen jenen Aktivisten, die den israelischen Staat in seiner Gesamtheit boykottieren und jenen, deren Boykott nur auf Produkte und Institutionen aus israelischen Siedlungen im Westjordanland abzielt. Es gibt bereits EU-Richtlinien, die Produkte aus solchen Siedlungen kennzeichnungspflichtig machen und es den Mitgliedstaaten verbieten, Verträge mit israelischen Institutionen in den Siedlungen zu unterzeichnen. Dies ist eines von vielen Anzeichen des wachsenden internationalen Drucks auf Israels Siedlungspolitik, der es Meltzer und Vertretern der israelischen Regierung in Zukunft immer schwieriger machen wird, einen Boykott der Siedlungen als einen direkten Angriff auf das Existenzrecht Israels darzustellen.

Vor allem aber zeigt aber der Fall, dass sich Israels Oberstes Gericht in dieser emotional geladenen Debatte zunehmend ideologisch positioniert. Mit der Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 2015 wurde aus dem bisherigen Tabu des Aufrufs zum Boykott ein zivilrechtliches Delikt. Obgleich es noch nie zum Verfahren gekommen ist, hat das Gesetz somit eine „abkühlende Wirkung“ auf die politische Meinungsfreiheit im Land, wie auch Sawsan Zaher, Anwältin der Bürgerrechtsorganisation Adalah, erklärt. Das „Boykottgesetz“ bietet Klägern die Möglichkeit, politische Gegner zu verfolgen und setzt gleichzeitig NGOs dem Risiko des finanziellen Ruins aus. Aus diesem Grund haben sich Journalisten und NGOs, was die Unterstützung des Boykotts angeht, seit der Verkündung des Gesetzes sehr vorsichtig verhalten. Gush Shalom, eine bekannte Organisation israelischer Friedensaktivisten, zum Beispiel entfernte Passagen ihrer Webseite, die zuvor zum Boykott von Produkten aus Siedlungen im Westjordanland aufriefen.

Aber die Kontroverse über das „Boykottgesetz“ lässt sich nicht nur auf alt bekannte Auseinandersetzungen zwischen dem linken und dem rechten Flügel der israelischen Gesellschaft reduzieren. Darüber hinaus hat das Thema eine weitergehende Debatte über die Spannung zwischen Meinungsfreiheit und nationaler Sicherheit ausgelöst. Der juristische Berater des israelischen Parlaments beschrieb das Gesetz einmal berühmter Weise als „grenzwertig illegal“. Selbst die „Anti-Defamation League“ (dt. Antidiffamierungsliga), eine Organisation zur Bekämpfung von Antisemitismus, die BDS sehr kritisch gegenübersteht, warnte dass das Gesetz „zu sehr in die demokratischen Rechte israelischer Bürger auf Meinungs- und Äußerungsfreiheit eingreift“. Trotz solcher Kritik seitens Organisationen aus dem gesamten politischen Spektrum, gelang es den Antragsstellern nicht, Richter wie die breitere Bevölkerung davon zu überzeugen, das Gesetz unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit und unabhängig von den Ängsten, die viele bezüglich eines wirtschaftlichen Boykotts hegen, zu diskutieren. Diese Herausforderung hat sich als umso schwieriger erwiesen, da Israel über keine schriftliche Verfassung verfügt und die Rolle des Obersten Gerichts in der israelischen Gesetzgebung umstritten ist.

Das „Boykottgesetz“ hat die öffentliche Debatte in Israel mit sofortiger Wirkung eingeschränkt. Obgleich die emotionale Reaktion vieler Israelis auf einen Aufruf zum Boykott erklärt, warum der Oberste Gerichtshof das Gesetz bestätigt hat, rechtfertigt dies nicht die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Namen nationaler Sicherheitsinteressen. Zudem ist nicht auszuschließen, dass dieses Gesetz, das der Eindämmung der Boykottbewegung dienen soll, genau das Gegenteil erzielt: Manche Boykottaktivisten glauben, dass ihre Bewegung nach dem „Boykottgesetz“ nur vermehrter internationale Unterstützung gewinnen wird. Schließlich scheint die Verabschiedung des Gesetzes denjenigen Recht zu geben, die behaupten, dass nur der Druck von Außen, das Ungleichgewicht der Kräfte im Nahostkonflikt lösen kann.

Maja Sojref ist Master-Studentin des Studienganges „Moderne Nahoststudien“ am St Cross College an der Universität Oxford. Sie interessiert sich insbesondere für den Nahostkonflikt und die Rolle der Zivilgesellschaft darin.

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Das Projekt „Debatte zur Meinungsfreiheit“ ist ein Forschungsprojekt des Dahrendorf Programme for the Study of Freedom am St Antony's College an der Universität von Oxford.

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