Der Politologe Rob Reich erörtert die Bedeutung des Internets für Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Gelten alte Regeln auch in einer neuen Welt?
Wer in einer Demokratie lebt, für den sind bestimme Prinzipien wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unabdingbar. Wir versammeln und organisieren uns für Gemeinwohl und Kultur, politischen Protest und nachbarschaftliches Leben. Dabei tauschen wir Meinungen aus und teilen sie unseren Mitmenschen und der breiteren Öffentlichkeit mit.
Wie genau das Versammeln und Kommunizieren funktioniert, hängt immer davon ab welche Technologien zur Verfügung stehen. Im 19. Jahrhundert tauschten sich die Menschen über Briefe, Flugblätter, Telegraphen, Zeitungen und Magazine aus. Im 20. Jahrhundert kamen Telefon, Radio und Fernsehen dazu.
Mehr zur Meinungsfreiheit in den sozialen Medien:
- Video-Interview mit Tim Wu, Autor von The Master Switch: The Rise and Fall of Information Empires
- Panel-Diskussion mit Richard Allen, Facebook’s Director of Public Policy in Europe
- Dein Beitrag: Was hältst du vom Verbot von Pseudonymen?
Im 21. Jahrhundert sprechen und treffen wir uns immer öfter virtuell. Wir kommunizieren und versammeln uns im Internet und auf sozialen Netzwerken und dies ist einfacher als je zuvor. Twitter und Blogs sind nichts Anderes als moderne Telegraphen und Flugblätter. Facebook und LinkedIn sind nichts weiter als die Bürgergruppen und Handelskammern der Moderne.
Zum Schutz von Meinungs- und Versammlungsfreiheit haben sich in demokratischen Gesellschaften Gesetze, Normen und Institutionen gebildet. Diese Zweckgebilde müssen wir der heutigen Zeit anpassen, damit ihnen der unaufhaltsame Marsch des technischen Fortschritts nicht davonläuft.
Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, wie wir Meinungs- und Versammlungsfreiheit anpassen sollten, um der Entwicklung der digitalen Welt gerecht zu werden. Wo können, ja wo müssen wir die Politik und die Grundsätze der Meinungs- und Versammlungsfreiheit von der alten Welt in die neue, digitale Welt übertragen?
Die unkritische Annahme, dass sich die Infrastruktur der Meinungs- und Versammlungsfreiheit einfach und direkt in die digitale Welt übernehmen lässt, oder dort schon übernommen wurde, ist ein Irrtum.
In der digitalen Welt gelten mindestens vier neue Regeln für Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Erstens ist üblicherweise ein Unternehmen dafür verantwortlich, den Zugang zum Internet bereitzustellen. Für den öffentlichen Raum gilt dies längst nicht im gleichen Maße. Um das Internet zu nutzen – und sich an der digitalen Gemeinschaft zu beteiligen – muss man erst den Nutzungsbedingungen zustimmen. Diese werden von Unternehmen geschrieben, deren Ziel es normalerweise ist, aus den Daten, die sie über uns sammeln, Kapital zu schlagen. Zudem sind auch viele Regierungen daran interessiert, diese digitalen Räume zu überwachen und zu kontrollieren, sowie zu bestimmen, was ihre Bürger dort sehen und sagen.
Zweitens binden wir in die verschiedenen Aktivitäten, die wir online betreiben – Nachrichten schreiben, Spiele spielen, soziale Netzwerke besuchen – sowohl unser digitales als auch unser analoges Selbst mit ein. Wann wir online sind und was wir dort tun ist kein Geheimnis für Regierungen und Konzerne, denn sie stellen die Infrastruktur zur Verfügung. In der realen Welt könnten oder dürften sie niemals so viel über uns wissen. Wie verändert die Anonymität im Internet unsere Einstellung zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Netz und was sollten wir von sogenannten „Real Name“-Regeln halten, die die Anonymität im Internet durch das Verbot von Pseudonymen ausschalten wollen?
Drittens ergibt sich aus unseren Aktivitäten im Internet noch ein ganz anderer Strang an Daten, der in der realen Welt kein Gegenstück findet. Die Masse an Klicks und Aufrufen, Suchbegriffen und Einkäufen bilden einen Berg von Informationen die, einmal aggregiert, extrem wertvoll sind. Konzerne nutzen diese Daten, um Werbung zu verkaufen und ihre Angebote zu verbessern. Regierungen nutzen sie, um Terroristen und Verbrecher aufzuspüren, und oft leider auch, um Dissidenten, Whistleblower und kritische Intellektuelle zu finden. Doch können diese Datenberge der Gesellschaft auch von Nutzen sein, um beispielsweise Krankheitsausbrüche vorherzusagen, unbekannte Interaktionen zwischen Medikamenten aufzudecken oder neue Nachforschungen in den Sozialwissenschaften anzustellen.
Viertens entstehen immer dann neue Herausforderungen für den Schutz der Privatsphäre, wenn eine neue Art von Daten gesammelt werden kann. Früher waren Metadaten wie Anruflisten oder Fernsehratings fast nutzlos oder deren Beschaffung so teuer, dass man sich um die Privatsphäre kaum Sorgen machen musste. Doch heute ist es ein Kinderspiel, komplexe Netzwerkanalysen zu generieren. Deshalb müssen wir überdenken, was uns die Privatsphäre bedeutet. Wie können wir sie schützen ohne die neuen Wunder der digitalen Welt einzuschränken und gleichzeitig den öffentlichen Raum vor Übergriffen von Konzernen und Regierungen bewahren?
In der Philanthropie zum Beispiel sind Anonymität und Kontrolle oft wichtig. Da die Spender beides verlangen, können Spenden und Stiftungen nicht ohne sie existieren. Das gleiche Problem ergibt sich, wenn es um die Weitergabe persönlicher Daten an gemeinnützige Organisationen geht. Der weltweite Erfolg von Creative Commons-Projekten wie Wikipedia zeigt, dass die Meinungen über das Teilen von persönlichen Daten auseinandergehen. Viele von uns geben ohne Bedenken viel von uns preis. Firmen müssen sich entscheiden, wie sie mit privaten Daten umgehen, ohne das öffentliche Vertrauen zu verspielen. Dies ist eine wichtige Entscheidung, und nicht jede Firma wird hier gleich agieren.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem neue Formen des Erschaffens, Teilens und Besitzens digitaler Materialien, zusammen mit digitalen sozialen Netzwerken, eine wirtschaftliche Revolution ausgelöst haben. Innerhalb von 15 Jahren haben sich verschiedene Branchen, u.a. Musik, Bücher, Zeitungen, Film und Fernsehen, radikal verändert. Viel weniger Beachtung finden die Veränderungen im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit – doch sie waren genauso revolutionär. Es bedarf daher eine Debatte über die Regeln, die im Netz gelten. Die Debatte zur Meinungsfreiheit ist dazu ein wichtiger Schritt.
Projekte wie die Debatte zur Meinungsfreiheit zeigen uns, wie sich Einstellungen zu Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Land zu Land und Kultur zu Kultur unterscheiden. Und sie zeigen uns noch mehr: wie sich solche Einstellungen in der virtuellen und realen Welt unterscheiden. Es ist wichtig, die richtigen Fragen zu stellen, selbst wenn die Antworten noch unklar sind.
Für mich ergeben sich langsam zumindest die Kontouren zweier solcher Antworten.
Erstens sollten wir den Zugang zur digitalen Welt, die es uns ermöglicht, uns virtuell mitzuteilen und zu versammeln, nicht als Dienstleistung sehen, die Konsumenten erwerben können, sondern als Grundrecht jeder Bürgerin und jedes Bürgers. Das heißt nicht, dass dieser Zugang von der Regierung bereitgestellt werden muss, genauso wenig wie Wasser, Strom und Telefonleitungen. Diese werden von privaten Dienstleistern bereitgestellt, während die Regierung sicherstellt, dass auch Menschen die sich die private Dienstleistung nicht leisten können, Zugang zu ihr haben. Daraus folgt, dass das der Zugang zur digitalen Welt zu einem Grundbaustein der öffentlichen Infrastruktur werden sollte. Tatsächlich handelt es sich um ein Gemeingut, von dessen Nutzen niemand ausgeschlossen werden kann, so wie niemand der Zugang zu einem gut beleuchteten Hafen untersagt werden kann. Er muss jedem zugänglich sein, ohne jegliche Konkurrenz, wie der Zugang zu sauberer Luft, der nicht durch die Nutzung eines Anderen gemindert wird.
Wie nahe sind solche Ideen an der Realität? Im Sommer 2013 erklärte niemand geringerer als Mark Zuckerberg, dass der Zugang zum Internet ein grundlegendes Menschenrecht sei.
Zweitens bleibt die schwierige Frage der Privatsphäre unbeantwortet. Hier ist der Unterschied zwischen Online- und Offlinewelt gravierend. Man bedenke zum Beispiel den Briefverkehr, der in den nationalen Postsystemen “netzneutral” geregelt ist, d.h. jedes Paket und jeder Brief wird ohne Rücksicht auf Inhalt zugestellt. Zudem bleibt hier die Privatsphäre im Normalfall intakt, denn das Öffnen der Post einer anderen Person ist normalerweise eine Straftat. Doch bei der Übertragung von elektronischen Nachrichten ist die Netzneutralität umstritten und die Privatsphäre nicht garantiert. Unternehmen und Regierungen verletzen hier den Schutz der Privatsphäre ihrer Bürger. Währen Google und Facebook Emails und Posts scannen um individuelle Werbung zu generieren, speichern die Nachrichtendienste fast jedes Detail unserer digitalen Lebens.
In diesem Bereich sehen wir ganz klar das Aufweichen von Normen zum Schutz der Privatsphäre, die einst Gang und Gäbe in der Offline-Welt waren. Die Balance zwischen Bürgerrechten und Sicherheit, die vor dem Internet herrschte, hat sich ganz klar in Richtung mehr Sicherheit verschoben. Das ist Fakt. Jedoch müssen wir uns die Frage stellen, ob dies auch mit dem Selbstverständnis von Demokratien zu vereinbaren ist, in dem die Meinungs- und Versammlungsfreiheit immer wichtig waren.
Robert Reich ist Professor für Politikwissenschaften an der Stanford University. Zu seinen Interessengebieten gehört vor allem die politische Theorie. Er arbeitet gerade an einem Buch zu Ethik, Politik und Philanthropie.