Der Unterschied zwischen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Wir machen regelmäßig auf Lesermeinungen aufmerksam, die einen besonderen Eindruck auf uns hinterlassen haben. Antoon de Baets lieferte einen aufschlussreichen Kommentar zum Diskussionsbeitrag von Josie Appleton („Geschichtsfreiheit – Ein Standpunkt gegen die Zensur der Vergangenheit“).

Ich bewundere die Arbeit der Organisation Liberté pour l’Histoire und unterstütze vorbehaltlos ihre Forschung und Ziele. Aber Pierre Nora und Olivier Salvatori sollen Josie Appleton zufolge das folgende geäußert haben:

Begriffe wie ‚Völkermord’ oder ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ gehören nun zum alltägliche politische Vokabular. „Diese Begriffe waren einst sehr präzise,“ erklärt Nora. „Ein ‘Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ war nach dem Zweiten Weltkrieg ein gesetzlicher Begriff, der eine staatliche Verpflichtung zur Strafverfolgung und Verurteilung von Verursachern des Holocaust bis zu deren Tod beinhaltete. Völkermord bedeutete die Entscheidung zur Vernichtung von Teilen der Bevölkerung aus rassistischen Beweggründen.“ Heute dagegen fallen auch Ereignisse wie Völkerkriege und Sklavenhandel unter diesen Begriff. Noras Meinung zufolge, „ist es eine juristische Absurdität, zu sagen, dass ein Ereignis wie der Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.“ Die Verursacher dieses Verbrechens sind schon vor mehreren hundert Jahren gestorben und es war nicht ihre Absicht, einen Teil der Bevölkerung auszurotten. Je mehr das Wort „Völkermord“ in einem weiteren ideologischen Sinne benutzt wird, desto mehr wird es „zu einem Begriff den Historiker zu vermeiden suchen.“

Im Gegensatz zum restlichen Interview ist dieser Absatz voller Unstimmigkeiten. Hier einige Klärungsansätze, Satz für Satz.

** „Diese Begriffe waren einst sehr präzise.”

Das ist wahr, aber die Begriffe sind heute noch präziser als damals. Die erste Definition von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Kriegsverbrechen” sind im Artikel 6b und 6c des Londoner Statuts (IMT) von Nürnberg (1945) zu finden. Die erste Definition von “Völkermord” steht im zweiten Artikel der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948). Über heutige, international anerkannte Definitionen gibt der International Gerichtshof im römischen Statut, Artikel 6 zum Völkermord (identisch zum zweiten Artikel der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes), Artikel 7 zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit (eine Umformulierung des Londoner Statuts) und Artikel 8 zu Kriegsverbrechen (dessen Formulieren auf denen der Genfer Konventionen des Jahres 1949 beruht) Auskunft.

Der oben genannte Absatz verwechselt Völkermord mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit: allgemein lässt sich sagen, dass jeder Völkermord ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt, aber nicht jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch ein Völkermord ist.

** „Ein ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ war nach dem Zweiten Weltkrieg ein gesetzlicher Begriff, der eine staatliche Verpflichtung zur Strafverfolgung und Verurteilung von Verursachern des Holocaust bis zu deren Tod beinhaltete.”

Dieser Satz stimmt: die Schuldigen des Holocaust mussten sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie für Kriegsverbrechen nach dem Londoner Statut vor Gericht verantworten. Doch per Definition des Londoner Statuts ist es nicht die Verantwortung des Gerichts der „staatliche[n] Verpflichtung zur Strafverfolgung und Verurteilung von der Verursachern des Holocaust bis zu deren Tod,” nachzugehen, sondern es ist die Verantwortung des Gerichts, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem: Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder: Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven; unabhängig davon, ob einzelstaatliches Recht verletzt wurde,” zu ahnden und zu bestrafen.

Beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden Angeklagte nicht des Völkermordes nach Londoner Statut verurteilt, da Völkermord zu jener Zeit noch gar nicht im Londoner Statut definiert war. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bestimmte erst am 11. Dezember 1948 durch Resolution 96(I), dass Völkermord ein Verbrechen in internationaler Rechtsprechung darstellte. Somit ist Völkermord rechtlich gesehen erst mit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 eingeführt worden, welches erst 1951 in Kraft trat. Der Holocaust zwischen 1939 und 1945 wurde offiziell erst nach dem Inkrafttreten der Konvention als Völkermord gehandelt. Niemand kann sich ernsthaft über die rückwirkende Bezeichnung beschweren, da die Konvention speziell aufgrund der Verbrechen durch die Nazis aufgestellt wurde. Viele andere Verbrechen der Vergangenheit stimmen mit der offiziellen Definition der Konvention überein.

** „Völkermord bedeutete die Entscheidung zur Vernichtung von Teilen der Bevölkerung aus rassistischen Beweggründen.”

Das ist nicht korrekt: die Definition des Völkermords spricht von einer Absicht zur Vernichtung von Teilen oder aber der gesamten Bevölkerung. Nicht nur die Vernichtung verschiedener Rassen, sondern auch die Vernichtung ethnischer, nationaler und religiöser Gruppen ist in dieser Definition des Völkermordes beinhaltet.

** „Heute dagegen fallen auch Ereignisse wie Bürgerkriege und Sklavenhandel unter diesen Begriff.”

(1) Bürgerkriege fallen nicht unter Definitionen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen. Ein Bürgerkrieg ist der Kontext, in wessen solche Verbrechen begangen werden. In zusätzlichen Protokollen aus dem Jahr 1977 hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes zum ersten mal zwischen dem Kontext eines internationalen Krieges und dem Kontext „eines Krieges, der keinen internationalen Charakter hat,” unterschieden.  Solch eine Unterscheidung war unabdingbar, da die Verbrechen, die in internationalen Kriegen ausgeübt werden, einen erheblichen Anteil an Verbrechen nicht erfassen. Die Unterscheidung zwischen international/national wurde auch vom internationalen Strafgerichtshof übernommen, jedoch nur für die Definition von Kriegsverbrechen.

(2) In Bezug auf die Äußerung zum Sklavenhandel, siehe unten.

** „Es ist eine gerichtliche Absurdität, zu sagen, dass ein Ereignis wie der Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt”.

Das ist nicht korrekt: Sklavenhandel ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber kein Völkermord. Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes bestimmt, dass Versklavung (ein Sammelbegriff für Sklaverei und Sklavenhandel) eine Unterkategorie von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit” ist. Die Deklaration der Weltkonferenz gegen Rassismus im Jahr 2001, hat diese Auffassung bestätigt. Sklaverei wird oft ungenau als Völkermord oder „schwarzer Holocaust“ bezeichnet, aber es war nicht die Absicht von Sklavenhändlern, Sklaven zu vernichten. Vielmehr war die Absicht, billige Arbeitskräfte auszunutzen. Diese Sichtweise wurde richtigerweise von Olivier Pétré-Grenouilleau vertreten (und an einer anderen Stelle des Interviews geäußert, jedoch nicht in der Passage, auf der ich hier Bezug nehme).

** „Je mehr das Wort ‚Völkermord’ in einem weiteren ideologischen Sinne benutzt wird, desto mehr wird es ‚zu einem Begriff den Historiker zu vermeiden suchen.’”

Es stimmt, dass das Wort „Völkermord” oft missbraucht wird (wie das Beispiel des „schwarzen Holocaust“ verdeutlicht). Zu behaupten, dass Historiker aus diesem Grund den Begriff vermeiden, ist jedoch ein schwaches Argument. Manche Verbrechen sind Völkermorde, andere sind es nicht. Der Gebrauch eines vielbenutzten Begriffs ist nicht zwangsläufig anachronistisch und oft sogar besser als der Gebrauch eines Begriffes, der zum Zeitpunkt des Verbrechens populär war (aus Platzgründen kann ich diesen Punkt hier nicht in weiter verfolgen). Rückwirkende Bezeichnungen sind gerechtfertigt. In der Tat machen Historiker nicht viel anderes als Geschehnisse im Nachhinein zu beschreiben. Natürlich haben Akademiker und auch alle anderen Personen das Recht, Begriffe nicht zu übernehmen, die durch internationale Rechtsprechung definiert werden. Sie sollten dann jedoch auch erklären, warum sie alternative Begriffe und Bezeichnungen für besser empfinden. Ich finde solche Erklärungen, wenn sie denn überhaupt geliefert werden, selten überzeugend. In Bezug auf vergangenes Unrecht ist es nicht ratsam, sich gegen die Definition von internationalen Gerichtshöfen zu stellen, da sich diese auf strikte Standards und große Forschungszentren berufen können. In Fällen in denen Unrecht schon eine längere Zeit zurückliegt, sollte die Nutzung von historischen oder modernen Begriffen im Detail gerechtfertigt werden.

In meinen Veröffentlichungen „Historical Imprescriptibility,” Storia della Storiografia (September 2011) und „Conceptualising Historical Crimes,” Historein, Nr. 11 (2012) gehe ich im Detail auf diese Punkte ein.

Antoon De Baets

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