Mörder dürfen nicht das letzte Wort haben

Timothy Garton Ash plädiert für eine Woche der Solidarität unter europäischen Medien und regt in diesem Rahmen auch die Wiederveröffentlichung der Karikaturen von Charlie Hebdo an.

Nächste Woche sollten alle europäischen Medien als Reaktion auf die von islamistischen Terroristen in Paris verübten Morde, ausgewählte Karikaturen von Charlie Hebdo veröffentlichen und die Publikation in einem begleitenden Kommentar erläutern. Was wir jetzt brauchen, ist eine Woche der Solidarität und der Freiheit, ein Bekenntnis aller Europäer, inklusive der Muslime, zur Meinungsfreiheit, denn dies allein macht es uns möglich, die Vielfalt in unserer Gesellschaft mit freiheitlichen Prinzipien zu vereinbaren.

Andernfalls überlassen wir den Mördern das letzte Wort. Denn alle mutigen Leitartikel, solidarischen Karikaturen und bewegenden Demonstrationszüge unter dem Motto „Je suis Charlie“ nützen nichts. Publikationen, die in ihrer Entscheidung auf sich allein gestellt sind, werden sich zukünftig aus Angst selbst zensieren. Gewaltbereite Extremisten, die andere Ansichten vertreten, werden daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen: Tabus lassen sich nur mit roher Gewalt durchsetzen.

Wir lösen unsere Differenzen nicht mit Gewalt sondern im Meinungsaustausch. So lautet das grundlegende Prinzip, das wir, vor allem wir die vom Schreiben leben, mit vereinter Stimme verteidigen müssen. Man hat das Recht, auf die Aussagen anderer erbost, unverschämt, sarkastisch oder beleidigend zu reagieren – genau so, wie man auch das Recht hat, sich selbst dadurch beleidigt zu fühlen. Hierfür gibt es gesetzliche Regelungen, die man durch ein parlamentarisches Verfahren zu ändern versuchen kann. Man kann friedlich demonstrieren, sich sogar des zivilen Ungehorsams bedienen. Doch nur der demokratische Staat kann rechtmäßig Gewalt ausüben. Es heisst nicht aus Zufall Staatsgewalt.

Aus diesem Verständnis des Freiheitsbegriffes und der Rolle des demokratischen Rechtsstaates folgen zweierlei Schlussfolgerungen, die wir auf unserer Internetseite zur Meinungsfreiheit wie folgt formuliert haben: „Weder drohen wir mit Gewalt, noch akzeptieren wir gewaltsame Einschüchterung.“ Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Paris bedarf der zweite Teils dieser Aussage eines außerordentlichen Bekenntnisses der Solidarität in den europäischen Medien.

Ich schlage vor, dass die Publikationen oder Sendungen im Rahmen so einer Woche nicht nur ein paar der Charlie-Hebdo-Karikaturen mit Bezug auf den Propheten Mohammed veröffentlichen, sondern auch andere Themen beinhalten sollten. So wird jedem deutlich, dass es sich bei Charlie Hebdo um eine satirische Zeitschrift handelt, deren Publikation alle möglichen Menschen als beleidigend empfanden. Dazu ist Satire schließlich da. Zudem sollte ein begleitender Kommentar erläutern, warum Medien, die solche satirischen Karikaturen normalerweise nicht veröffentlichen oder senden würden, sich gerade jetzt dazu entschlossen haben. Leser und Zuschauer sollten vor der Veröffentlichung der Karikaturen vorgewarnt werden, dagegen sollten die Bilder selbst nicht verpixelt oder nachbearbeitet werden.

Obwohl so eine Aktion nur geringer Vorbereitungszeit bedarf, ist sie sehr wirksam. Wenn wir dagegen nicht schnell handeln, wird sich bald keiner mehr für das Thema interessieren. Gut wäre es auch, wenn sich freie Medien auf der ganzen Welt dieser Aktion anschlössen. Es sollte sich hierbei jedoch zu allererst um einen Moment der europäischen Solidarität und des Bekenntnisses zur Meinungsfreiheit handeln, da diese für unser Wertesystem und unsere Lebensweise von zentraler Bedeutung ist. Zudem handelt es sich hierbei um eine Dimension der Freiheit, auf der die meisten anderen freiheitlichen Rechte beruhen.

Natürlich wird dabei jede Zeitung, Zeitschrift oder Internetseite, jeder Blog und jede Social-Media-Site eines Senders ihre eigene Herangehensweise haben. Mein Entwurf für ein Statement zu diesem Anlass würde jedenfalls ungefähr so aussehen:

„Wir dürfen es niemals zulassen, dass Gewalt die Meinungsfreiheit einschränkt. Darum veröffentlichen wir heute, zusammen mit Medienhäusern in ganz Europa, diese satirischen Karikaturen, die wir normalerweise nicht publizieren würden. Dieses Zeichen der Solidarität soll den Mördern und ihren Nachahmern zeigen, dass ihre Taktik nach dem Motto „Teile und Herrsche“ und ihr Versuch, die Medien bis zur Selbstzensur einzuschüchtern, nicht aufgehen wird. Wer einen von uns angreift, greift uns alle an. In diesem Sinne, nous sommes tous Charlie.“

Damit werden die Mörder es lediglich erreicht haben, dass Millionen von Menschen die Karikaturen des Propheten Mohammed sehen, die sie andernfalls nie zu Gesicht bekommen hätten. In diesem Sinne wären es dann nicht die Karikaturisten sondern die Mörder, die Schande über das Abbild des Propheten gebracht haben. Schließlich besteht nach den Anschlägen ein unermessliches, berechtigtes öffentliche Interesse daran, herauszufinden, was der augenscheinliche Grund für das groteske, terroristische Verbrechen an den französischen Karikaturisten Charb, Cabu, Wolinski und Tignous – deren Namen in die Geschichte eingehen werden – ihrer Kollegen und der Polizei war.

Die koordinierte Veröffentlichung der Karikaturen in ganz Europa ist weder eine überflüssige Geste, noch richtet sie sich gegen den Islam. Ganz im Gegenteil, sie verteidigt genau die Prinzipien, die es möglich machen, dass Muslime in Europa, im Gegenteil zu Christen und Atheisten in weiten Teilen des Nahen Ostens, ihre tiefsten religiösen Überzeugungen frei äußern sowie den Glauben anderer hinterfragen können. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Zukunft Europas und die der Freiheit. Dass wir auch in Zukunft in Freiheit zusammenleben können, hängt vor allem davon ab, dass wir den Mördern nicht das letzte Wort überlassen.

Timothy Garton Ash leitet das Projekt freespeechdebate.com und arbeitet zurzeit an einem Buch über Meinungsfreiheit. Twitter: @fromTGA

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Das Projekt „Debatte zur Meinungsfreiheit“ ist ein Forschungsprojekt des Dahrendorf Programme for the Study of Freedom am St Antony's College an der Universität von Oxford.

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