Warum es ohne Bildung keine Meinungsfreiheit geben kann

Die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung ist für die Meinungsfreiheit in einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Wie Dominic Burbidge berichtet, lässt sich dies nicht nur aus den offiziellen Statistiken ableiten sondern spiegelt sich auch im Leben der Menschen am Rande der Gesellschaft wieder.

Ich traf Emmanuel zum ersten Mal auf einer vor Hitze glühenden Straße in Mwanza City in Tanzania. Damals lebte er als Pflegekind bei einem Markthändler, den ich zuvor interviewt hatte, und Emmanuel war mir heimlich aus dem Stadtzentrum gefolgt. Als er sich endlich entschloss, mich anzusprechen, wirkte er verzweifelt. Er war den Tränen nahe und bat mich inständig um Hilfe, denn er wollte unbedingt eine Schule besuchen. Um weitere Aufregung zu vermeiden lud ich ihn in ein kleines Café ein und fragte ihn, wer er war.

Emmanuel stammte aus einem Dorf nahe Musoma und war das älteste von acht Kindern in seiner Familie. Sein Vater starb als Emmanuel noch klein war. Nachdem zwei Jahre vor unserer Begegnung auch seine Mutter an einer Entzündung gestorben war, war Emmanuel nun allein für seine sieben Geschwister verantwortlich. Als das Oberhaupt der Familie reiste Emmanuel dann mit Jackson, dem Zweitältesten, herum, in der Hoffnung in der nächstgrößeren Stadt Mwanza ein Auskommen zu finden. Er hoffte eines Tages in sein Dorf zurückkehren und die anderen Geschwister, die derweilen bei der Großfamilie lebten, unterstützen zu können. Nachdem sie eine Weile lang mit einer Gruppe von Straßenkindern herumgezogen waren, nahm sich eine Christin namens Margaret, die in einer nördlichen Vorstadt Mwanzas lebte, der Jungen an. Margaret war eine alleinerziehende Mutter, die selbst zwei Töchter durchbringen musste. Zwar hatte sie keinen Platz Emmanuel und Jackson bei sich unterzubringen, erklärte sich jedoch bereit, sie mit Essen zu versorgen und überredete einen alten Mann, der in der Nähe lebte, die Jungen auf dem Fußboden schlafen zu lassen. Somit hatte Emmanuel fortan eine Unterkunft und genug zu essen. An jenem Tag bat er mich, ihm darüber hinaus eine Schulbildung zu ermöglichen. Vier Jahre lang übernahm ich seine Schulgebühren, die sich auf insgesamt etwa 100 Pfund beliefen.

In Tansania liegt die Alphabetisierungsrate bei 65 Prozent. Im Umkehrschluss heißt das, dass laut dem Statistischen Büro der UNESCO 35 Prozent der Menschen in Tansania „nicht fähig sind eine kurze, einfach Aussage über ihr alltägliches Leben mit vollem Verständnis aufzuschreiben und zu lesen.“ So lautet das im Jahr 1958 eingeführte Kriterium, das bestimmt, ob ein Mensch als alphabetisiert zählt oder nicht und auf dessen Grundlage anhand von Statistiken und Umfragen die Alphabetisierungsraten in den einzelnen Ländern ermittelt werden. In neuesten Studien zur Lesefähigkeit in den Industrienationen, wie etwa in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien, wurde der Begriff des Analphabetismus noch erweitert. Letztere Studien beziehen sich auf eine striktere Definition der Alphabetisierung, wie zum Beispiel auf die Frage, ob die Lesekenntnisse der betreffenden Person den zu erwartenden Fähigkeiten eines 11 Jahre alten gebildeten Lesers entsprechen. In den Entwicklungsländern gilt dagegen weiterhin jeder als alphabetisiert, der einen kurzen, einfachen Satz lesen und schreiben kann. Aber auch ausgehend von dieser vereinfachten Definition der Lesefähigkeit gelten immer noch 16 Prozent der Weltbevölkerung als Analphabeten. Zwei Drittel der betroffenen Erwachsenen in Bangladesch, China, Ägypten, Äthiopien, Indien, Indonesien, Nigeria oder Pakistan.

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UNESCO Weltkarte zur Alphabetisierung unter Erwachsenen (2013)

Dieses Ausmaß an Analphabetismus stellt unser Konzept der freien Meinungsäußerung auf die Probe. Verfechter der Meinungsfreiheit müssen sich noch bevor sie erörtern, welche Aussagen als illegal oder gefährlich gelten sollten, mit dem Problem des Analphabetismus auseinandersetzen. Schließlich können in einer Gesellschaft, in der es Analphabeten gibt, nicht alle Menschen, die sich ausdrücken wollen auch schreiben. Zudem können nicht alle, die zuhören wollen auch lesen. Somit bleibt jenen Menschen der Zugang zu öffentlichen Debatten verschlossen, als hätte man sie aus ihrem eigenen Zimmer ausgesperrt.

In Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft argumentiert Amartya Sen, dass sich der Prozess der Entwicklungsarbeit nicht von der Emanzipation der Menschen in den betroffenen Ländern durch Gesundheitsvorsorge und Bildung trennen lässt. Wie Sen erläutert, ist die Lesefähigkeit damit nicht nur in der Ausübung gewisser Berufe von Nutzen. Vielmehr ermöglicht sie es den Menschen, frei zu leben und ihre Ziele im Leben zu verwirklichen, seien diese wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Natur. Mangelnder Bildungszugang unter Frauen gilt nach wie vor als wichtigstes Hindernis zur Alphabetisierung der Weltbevölkerung: die Anzahl der Frauen weltweit, die von Analphabetismus betroffen sind, liegt 9 Prozent höher als bei Männern. In seinem Buch weist Sen auf den Zusammenhang zwischen der Lesefähigkeit von Frauen und sinkender Kindersterblichkeit hin. Dies zeigt, wie entscheidend Alphabetisierung den Lebensstandard von Familien sowie die Produktivität von Volkswirtschaften auf der ganzen Welt beeinflusst. Viel wichtiger noch als Fragen der Lebenserwartung und der wirtschaftlichen Produktivität ist jedoch die Tatsache, dass menschliche Kommunikation und damit die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben ein fundamentaler Bestandteil dessen sind, was es heißt menschlich zu sein.

Seit ich Emmanuel von meiner Forschung zu den städtischen Regionen Afrikas erzählt habe, versucht er mich zu überreden, seine Ansichten über Mwanza und über die Frage, was getan werden muss um das Problem der Straßenkinder zu lösen, zu publizieren. Im Jahr 2013 besuchte ich schließlich die Wohnung eines südostasiatischen Einwanderers namens Raj in Großbritannien. Emmanuel hatte ihn zufällig beim Besuch seiner eigenen Großfamilie in Mwanza kennengelernt. Damals war Emmanuel gerade dabei seine schulische Ausbildung abzuschließen. Er gab Raj meine Telefonnummer und bat ihn inständig sich nach seiner Rückkehr nach Großbritannien mit mir zu treffen. Wir saßen gerade auf Rajs Sofa in einer Wohnsiedlung in Südlondon, als dieser mir einen dicken Stapel Papier reichte, auf dem stand: „Die Ursachen des Problems der Straßenkinder“, von Emmanuel. Emmanuel kann heute lesen und schreiben, er hat eine Schulausbildung erhalten, leitet inzwischen sein eigenes Unternehmen in Mwanza und wurde zum Repräsentanten seiner Nachbarschaft gewählt.

Dominic Burbidge ist Mitherausgeber der Free Speech Debate. Er promovierte am Oriel College, Oxford zur Politik Kenias und Tansanias und ist Autor von The Shadow of Kenyan Democracy.

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Das Projekt „Debatte zur Meinungsfreiheit“ ist ein Forschungsprojekt des Dahrendorf Programme for the Study of Freedom am St Antony's College an der Universität von Oxford.

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