Offene Regierungsführung in Chongqing?

Informationen zu Umweltfragen werden in China trotz nominell existierender Informationsfreiheitsgesetze streng kontrolliert, schreibt Sam Geall.

Während die chinesische Stadt Chongqing mit dem Sturz ihres charismatischen Parteisekretärs Bo Xilai beschäftigt war, begann die Three Gorges Corporation im März 2012 mit den Vorbereitungen für den Bau des 4,75 Milliarden Dollar teuren Xiaonanhai-Damm flussaufwärts von Chongqing, des letzten von 12 Dämmen entlang des Flusses Yangtze. Das Bauprojekt war von Bo trotz des Widerstands von Umweltschützern vorangetrieben worden.

Die Umweltschützer waren schockiert. Nur wenige von ihnen hoffen noch immer, dass der Bau des Damms verhindert werden kann. Es wird befürchtet, dass der Damm wichtigen Lebensraum für seltene und gefährdete Fischarten, u.a. für den Chinesischen Paddelfisch und den Yangtze-Stör, ein “lebendes Fossil” das seit der Ära der Dinosaurier überlebt hat, zerstören wird.

“Der Xiaonanhai-Damm wird das Schutzgebiet ruinieren,” schrieb Fan Xiao, ein engagierter Geologe und Chefingenieur für die geologischen Messungen in der Region, in einem offenen Brief. “Die Entscheidung, das Gelände des Damms und die umliegenden Flussläufe aus dem Schutzgebiet zu nehmen, ist eine Entscheidung gegen das Naturschutzgebiet und für die Wasserkraftindustrie, die nationale Gesetze und Umweltschutzrichtlinien missachtet.” Dies “bedeutet im Prinzip die Todesstrafe für diese gefährdeten Spezies”, sagt Chang Cheng, ein Aktivist für Friends of Nature (FON), Chinas älteste Nichtregierungsorganisation.

Doch der Beginn der Arbeiten an dem Damm scheinen nicht nur das Ende des Yangtze-Störs einzuläuten, sondern er ist auch ein schlechtes Omen für die Informationsfreiheit in China.

Vor genau vier Jahren, am 1. Mai 2008, trat Chinas Informationsgesetz zur offenen Regierungsführung in Kraft. Ein Jahr zuvor, auf dem 17. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas, sprach sich Präsident Hu Jintao öffentlich für mehr Transparenz aus. Er sagte, “Macht muss im Sonnenschein ausgeübt werden, um sicherzustellen, dass sie richtig ausgeübt wird.”

Hus Aussage klingt vielleicht überraschend, wenn man die jüngsten Einschränkungen der Meinungsfreiheit nach Bos Fall bedenkt. Die Zensoren haben “Gerüchte” im Internet über die Zukunft des Landes und Internseiten, die Bo unterstützten, blockiert oder gelöscht. Doch Artikel 1 entspricht dem Geiste der Worte Hus. Er besagt, das Ziel der Richtlinien sei es, “sicherzustellen, dass alle Bürger, rechtlichen Körperschaften und anderen Organisationen von der Regierung dem Recht gemäß Informationen erhalten, die Transparenz der Arbeit der Regierung zu stärken, ein Verwaltungswesen, das sich an das Recht hält zu fördern, und Informationen über die Regierung voll auszunützen, um der Produktion und dem Einkommen des Volkes und seiner ökonomischen und sozialen Aktivitäten zu dienen.”

Nachdem eine Reihe lokaler Pilotprojekte und internationaler Konsultationen bezügliche verschiedener “Sonnenscheingesetze”, wie zum Beispiel dem Freedom of Information Act in Grossbritannien, durchgeführt worden waren, wurden zwei Aspekte offener Regierungsführung eingeführt. Bestimmte Informationen sollten automatisch von den Behörden verbreitet werden, und andere Informationen zumindest auf Anfrage von Bürgern herausgegeben werden.

Umweltdaten jedoch werden in China noch immer nur stark eingeschränkt an die Öffentlichkeit gegeben. Im vergangenen Jahr dauerte es einen Monat, bis die Staatliche Ozeanverwaltung zugab, dass in der Bohai-See vor der Nordostküste Chinas Oel ausgetreten war und die Meeresoberfläche über 4250 km2 verschmutzt hatte. Im Jahr zuvor hatte eine Bergbaufirma erfolgreich neun Tage lang unter Verschluss gehalten, dass riesige Mengen von Giftstoffen aus einer Kupfermine in den Fluss Ting in der Provinz Fujian ausgetreten waren, was zum Tod von mehr als 1.500 Tonnen Fisch führte.

Wie lässt sich erklären, dass solche Geschehnisse noch immer vorkommen? Erstens muss man feststellen, dass in China – wie auch in anderen Ländern – die Informationsfreiheitsgesetze Ausnahmen vorsehen. So gilt zum Beispiel, dass Informationen, die die Sicherheit des Staates, der Wirtschaft oder die soziale Stabilität gefährden, nicht veröffentlicht werden müssen. Ausserdem gilt, dass andere Gesetze wie zum Beispiel das Gesetz, das Staatsgeheimnisse schützt, Vorrang vor dem Informationsfreiheitsgesetz haben. Doch wichtiger ist wahrscheinlich, dass es Probleme bei der Umsetzung und Durchsetzung der Informationsfreiheitsgesetze gibt.

Das erste Regierungsorgan, das die nationalen Vorschriften in spezifische Dekrete umsetzte, war das Umweltschutzministerium (MEP), ein Ministerium mit wenig echter Macht, das seit langem Zivilgesellschaft und Medien dabei unterstützt, die Einhaltung von Umweltschutzstandards zu überprüfen. Dies soll die wenig engagierte Einstellung der Lokalregierungen aufwiegen, die oft das Wirtschaftswachstem für wichtiger einstufen als den Umweltschutz – so wie auch Chongqing unter Bos Führung.

Article 19, eine Meinungsfreiheits-NGO, untersuchte die Umsetzung des Umweltinformationsveroeffentlichungsdekrets des MEP und fand dabei heraus, dass trotz des Fortschritts im Bereich der automatischen Bekanntmachung von Informationen, während sie nur ungenügend auf Anfragen von Seiten der Öffentlichkeit antworteten. Vor allem sensible Informationen, die für Aktivisten oft am interessantesten sind – zum Beispiel Informationen über die Entsorgung giftigen Abfalls – sind noch immer kaum zugänglich.

Umweltschützer von FON, die sich gegen den Xiaonanhai-Damm in Chongqing einsetzten, forderten mit Hilfe der neuen Gesetze das Landwirtschaftsministerium dazu auf, den Untersuchungsbericht der Regierung über das Naturschutzgebiet und die Grenzen des Ausbreitungsgebiets der gefährdeten Fischarten zu veröffentlichen.

Sie sind nicht die einzigen Aktivisten, die in den vergangenen Jahren versucht haben, mithilfe der Transparenzgesetze mehr über Chinas grosse Wasserkraftprojekte herauszufinden, die zur Zeit unter dem 12. Fünfjahresplan wieder einmal Hochkonjunktur haben. Der Jurist Ren Xinghui forderte 2009 vom Finanzministerium Informationen über den Finanzierungsfond für den Dreischluchtendamm an, mit dem ein grosser Teil der Kosten für das größte Wasserkraftprojekt der Welt, das zur Umsiedlung von 1,3 Millionen Menschen führte, finanziert wurde.

“Der Dreischluchtendamm ist eines der wichtigsten Bauprojekte in unserem Land, und er wird mit Regierungsgeldern gebaut,” sagte Ren einer chinesischen Zeitung. “Die Bauarbeiten sind fast abgeschlossen, daher ist es an der Zeit, dass die Behörden uns mitteilen, wie das für das Projekt vorgesehene Geld ausgegeben wurde.” Ren sagte, das Ministerium forderte mehr Informationen zu seinem Forschungsvorhaben, die er jedoch verweigerte, da dies in den Informationsfreiheitsgesetzen nicht vorgesehen sei. Seine Anfrage wurde letztendlich abgelehnt weil die Informationen sich nicht “direkt” auf seine “Arbeits-, Haushalts- oder Forschungsaktivitäten auswirken”. Das entscheidende an dieser Begründung sei, so Ren, dass das Wort “direkt” laut Gesetz nicht vorgesehen war.

Im Falles Chongqings jedoch gab es einen kleinen Unterschied: Das Landwirtschaftsministerium verweigerte die Herausgabe der Daten mit der Begründung, dass “prozedurale” Informationen nicht unter die Transparenzgesetze fielen. Chang erklärte mir in einer Email: “Dies ist geradezu eine ‘Catch-22′-Situation für die Öffentlichkeit, die den Entscheidungsfindungsprozess der Regierung Beaufsichtigen und an ihm teilnehmen möchten.”

Chang hat in einem Punkt recht: Wenn die Regierung nicht willens ist, öffentlich zu machen wie Entscheidungen getroffen werden und die Regeln dann nicht befolgt werden, können die Informationsfreiheitsgesetze nicht sinnvoll dazu verwendet werden, die Regierung rechtzeitig zur Rechenschaft zu ziehen. Es hilft ja niemandem, wenn erst herauskommt, dass die Vorschriften nicht befolgt wurden, nachdem der Yangtze-Stoer offiziell ausgestorben ist.

Zusammen mit der Chinesischen Universität für Politikwissenschaften und Recht versuchte FON, eine Untersuchung der existierenden Regeln zu veranlassen, im Zuge derer die Rechtmäßigkeit dieser “Catch-22″-Situation angefochten werden würde. Doch sie warten noch immer auf das Ergebnis ihrer Bemühungen. Chang erzählte mir, dass mehrere NGOs derzeit vor dem gleichen Problem stehen. Um es kurz zu fassen, sagte er, seien die OGI-Vorschriften “nicht darauf ausgelegt, dass sich die Bürger in den Entscheidungsfindungsprozess einmischen”.

Vier Jahre nach der Einführung dieser bahnbrechenden Gesetze ist China noch immer weit von einer offenen Regierungsführung entfernt. Dies merken vor allem die Aktivisten, die immer wieder im Dickicht von Zensur und Vertuschung stecken bleiben.

Der vielleicht einzige Hoffnungsschimmer kommt von Umwelt- und Transparenzaktivisten wie Chang und Ren. Ren sagte im Jahr 2010 über seine Anfragen: “Es fühlt sich für mich wie ein kleiner Schritt an, doch es ist ein Schritt, den ich tun sollte. Wenn jeder Bürger seine eigenen kleinen Pflichten erfüllt, dann werden wir unsere Gesellschaft zusammen sehr viel besser machen.”

Sam Geall ist der Stellvertretende Direktor von chinadialogue, einer bilinguale Nachrichten- und Diskussionsseite zu Umweltfragen, die sich besonders auf China konzentriert. Er ist Doktorand in sozialer Anthropologie an der Universität Manchester, Autor des Buches Climate-Change Journalism in China: Opportunities for International Cooperation (dt. Klimawandel-Journalismus in China: Chancen fuer internationale Zusammenarbeit) und Herausgeber eines bevorstehenden Buches über Graswurzel-Umweltaktivismus in China, das von Zed Brooks verlegt wird.

Dieser Artikel wurde im Guardian Comment Network abgedruckt.

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Das Projekt „Debatte zur Meinungsfreiheit“ ist ein Forschungsprojekt des Dahrendorf Programme for the Study of Freedom am St Antony's College an der Universität von Oxford.

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